Georg Toepfer
Historisches Wörterbuch der Biologie, Rezension

Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 36 (2013), S. 96-98
Francesca Michelini

Die drei Bände von Georg Toepfer bilden das erste systematische Lexikon der Geschichte und der Theorie der "Grundbegriffe" der Biologie. Es handelt sich um ein monumentales Werk: 112 Haupteinträge in alphabetischer Reihenfolge und 1760 Nebeneinträge, die jeweils mit Bezug sowohl auf die Zeit, in der sie geprägt worden sind, als auch auf den Autor, der sie eingeführt hat, in einem Feld am Anfang jedes Haupteintrages angeführt werden. Das Wörterbuch wird durch mehr als 500 Abbildungen und 300 Tabellen vervollständigt, die zur Klarheit des Werkes beitragen, ein Wortverzeichnis direkt nach der Einleitung führt alle im Werk vorhandenen Begriffe auf. Jeder der 112 Artikel beginnt mit einer Rekonstruktion der Wortgeschichte, die bestätigt, dass die Absicht des Autors darin liegt, die Geschichte der Begriffe und der biologischen Theorien ausgehend von den Wörtern selbst darzulegen, wobei eine richtige "Philologie der Naturwissenschaften" gebildet wird (S. XIV). Eine Definition der Begriffe systematischer Art befindet sich erstmals in einem nachfolgenden Kasten: Ihre Aufgabe ist, so Toepfer, "aus den historischen Entwicklungen eine systematische Lehre zu ziehen" (S. IX). Der informativste und nützlichste Teil des Wörterbuchs ist zweifellos diese historische Rekonstruktion jedes Begriffes - insofern handelt es sich vor allem um ein ,historisches' Wörterbuch der Biologie, das den Wandel von Begriffen von der Antike bis hin zum aktuellen Stand der Forschung untersucht. Jeder Artikel ist mit einer eindrucksvollen Anzahl direkter Zitate aus den Quellen versehen, die in einigen Fällen auch mehr als 300 Bezüge erreichen, sodass jeder Eintrag als eine Art kleine Abhandlung zum Thema betrachtet werden kann. Von beachtenswerter didaktischer Nützlichkeit ist außerdem der Verweis am Ende jedes Artikels auf eine begrenzte Gruppe einschlägiger Werke zu dem behandelten Thema. Selbst wenn man von der Materialmenge, die hier gesammelt worden ist (ein Unternehmen, das zweifellos, wie Toepfer selbst berichtet, durch den Digitalisierungsprozess der wissenschaftlichen und bibliographischen Hauptquellen vereinfacht worden ist, S. IX), und von ihrer Organisierung absähe, wäre das Werk auch aus einem weiteren Grund ein monumentales und ebenso mutiges Unterfangen, da es sich der Schwierigkeit stellt, eben die "Grundbegriffe" der Biologie zu identifizieren. Die Biologie ist eine Disziplin, die sich ständig weiterentwickelt, und ihre Begriffe sind mitnichten eindeutig, sondern zeichnen sich - wie Friedrich Waismann behauptet hat - durch "Porosität" und "offene Textur" (S. XXVII) aus. Selbst das grundlegende Objekt der Biologie - Toepfer zufolge ist es der Organismus - scheint schwer zu definieren. Wenn man von der grundlegenden Annahme ausgeht, die Biologie sei im Gegensatz zu den anderen Wissenschaften, etwa der Physik, eine "begriffszentrierte Naturwissenschaft" (S. XXI), dann liegt die Herausforderung des Wörterbuches gerade darin, nicht so sehr "die erste Verwendung und Geschichte möglichst vieler Begriffe zu klären, sondern die theoretisch wichtigsten Begriffe" (S. XXXVI) zu identifizieren. Aber welche sind das? Und worauf gründet sich ihre Auswahl? Die Legitimation seiner Wahl liefert der Autor in der Einleitung. Hier erfahren wir, dass man unter "Grundbegriffe" außer den taxonomischen Hauptgruppen (wie Virus, Bakterium, Pflanze, Pilz und Tier) vor allem "die für die Mehrzahl der uns bekannten Lebewesen fundamentale[n] organische[n] Phänomene" (S. XXXVIII) (wie zum Beispiel Balz, Befruchtung, Metamorphose usw.) zu verstehen hat. Grundbegriffe haben demnach im Allgemeinen vielmehr mit den Prozessen zu tun, die in einem Körper stattfinden, als mit seinen Teilen (wie zum Beispiel mit den Muskeln und den Nerven usw.) oder mit besonderen Begriffen, die ausschließlich für einige Arten von Organismen gelten (S. XXXVIII). Aus diesem Grund - und das könnte als einer der strittigsten Punkte betrachtet werden - untersucht das Wörterbuch nur am Rande die Genetik, die Neurobiologie und die Molekularbiologie, wendet sich aber dafür direkt jenen Unterdisziplinen der Biologie zu, die den gesamten Organismus betreffen, wie etwa der Morphologie, der Ökologie, der Ethologie oder der Evolutionsbiologie. Wenn außerdem "Organismus" derjenige Begriff ist, der die Grenze der Biologie ,nach unten', das heißt also zur Physik, darstellt, dann versammeln sich unter der Kategorie "Grundbegriffe" nur scheinbar fremde Einträge (wie "Bioethik", "künstliches Leben", "Kulturwissenschaft"), die jedoch bei näherem Hinsehen die Funktion haben, die Biologie ,nach oben' hin abzugrenzen, also die Grenze zum Bereich der Kultur zu repräsentieren (S. XXIV). "Organismus" und "Kultur" sind außerdem zwei der zehn Hauptgruppen - die auch "Typus", "Form", "Funktion", "Entwicklung", "Verhalten", "Fortpflanzung", "Evolution" und "Ökosystem" beinhalten -, in die die 112 Begriffe wiederum eingeordnet werden und die die Funktion einer Art von Überkategorie haben.

Es ist ziemlich offensichtlich (und der Autor hebt es selbst hervor), dass eine solche Wahl von jenen Fachvertretern, die einen empirischen Zugang zu ihrer Disziplin bevorzugen, als spekulative Überhöhung missverstanden werden kann (S. XXV). Je mehr man über Toepfers "Begriffstafel" nachdenkt und sie vertieft, wird so immer klarer, dass die dem Historischen Wörterbuch zugrunde liegende Systematisierung nicht nur das Werk eines Biologen oder eines Biologiehistorikers ist, sondern vor allem das eines Philosophen. Man könnte fast in Versuchung geraten, in dieser Tafel einige Ähnlichkeiten zur Kantischen Kategorientafel oder, um auf einen zeitlich näheren Denker zu verweisen, zu Helmuth Plessners ,Organischen Modalen' wiederzufinden, in dem Sinne, dass Toepfers Wörterbuch zu einer ,Forma mentis' gehört, die dem Aufbau großer systematischer Entwürfe nachgeht, wobei diese Systeme von als grundlegend und ,primitiv' erachteten Begriffen fundiert werden. Im Mittelpunkt von Toepfers Systematik finden wir jedoch weder das Kantische ,Ich denke' noch Plessners ,Positionalität', sondern vielmehr den lebendigen Organismus. Er ist, wie schon erwähnt, das primäre Objekt der Biologie und nicht etwa die Gene, die Arten oder die Populationen. Der Erläuterung seiner Idee des Organismus hatte der Autor bereits eine umfangreiche Monografie mit dem Titel Zweckbegriff und Organismus. Über die teleologische Beurteilung biologischer Systeme, Würzburg: Königshausen & Neumann 2004 gewidmet. Von diesem Werk muss ausgegangen werden, wenn man die Auswahl der Grundbegriffe des Wörterbuches wirklich verstehen möchte. Indem Toepfer auf die Chaos- und Ordnungstheorien zurückgreift (und insbesondere auf Stuart Kauffman), behauptet er in jenem Buch, dass der Organismus primär als ein ,organisiertes System' aufzufassen ist, dessen Teile in einem Verhältnis der Wechselbeziehung zueinander stehen, und erst in zweiter Linie als ein historisch gewordenes Objekt, dessen Eigenschaften das Ergebnis von Evolution und Selektion sind. Diese Wechselseitigkeit der Teile im Inneren des Organismus wird dann als dessen innere Zweckmäßigkeit bestimmt, was einen eindeutigen Bezug zur Philosophie Kants zeigt. Kant hatte den Begriff der inneren Zweckmäßigkeit reformuliert und dessen Konstatierung als regulatives Urteil bestimmt, das geeignet wäre, den lebendigen Organismus zu begreifen. Organismen werden hier zu organisierten Produkten der Natur: "Ein organisiertes Produkt der Natur ist das, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist" (kursiv im Original, Immanuel Kant, Kritik der Urtheilskraft, in: derselbe, Gesammelte Schriften, herausgegeben von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. V, Berlin: Reimer 1913, § 66). Kant hat den Begriff der inneren Zweckmäßigkeit entwickelt, um anhand des Verhältnisses des Organismus zu seinen Teilen jene Eigenschaften des Lebendigen zu erklären, die nicht auf rein mechanistische Konzepte zu reduzieren sind. Dieses Konzept scheint auch für Toepfer wesentlich, weil er in diesem Gedanken ein alternatives Modell zu jeder ,geradlinigen' Zweckmäßigkeit sieht, die mit der Vorstellung von Planhandlungen und bewussten Absichten eines Subjektes verbunden ist, welches in der Lage ist, im Geiste einen zukünftigen Zustand vorherzusehen - eine Vorstellung, die für ein wissenschaftliches Verständnis von Natur unangemessen ist (Toepfer 2004).

[...]

Wie diese Dynamik zwischen individuellem Standpunkt und enzyklopädischem Willen von Mal zu Mal gelöst wird, muss natürlich dem Eindruck der aufmerksamen Lektüre der einzelnen Einträge überlassen werden. Aber gerade durch die fruchtbare Spannung zwischen objektiver Darstellung und eigenständigem theoretischem Leitgedanken zeichnet sich Toepfers Werk nicht nur als ein höchst nützliches "Orientierungsinstrument" (S. IX) aus, sondern auch als ein Solitär im heutigen biologiegeschichtlichen und biophilosophischen Panorama.
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